N.N No Name

02.03.2013 21:33

 

3.000 Namen

Ein Film über das Verschwindenlassen in Kolumbien
 

N (abk.) nacido, geboren; N (abk.) = Die unbekannte Person. Soweit die Auskunft des Spanisch-Wörterbuchs zu dem Kürzel N.N.. N.N. bezeichnet Menschen in Lateinamerika, deren Identität nicht feststellbar ist und die als unbekannt beigesetzt oder in Massengräbern verscharrt werden. Oft handelt es sich dabei um sogenannte Verschwundene, Opfer willkürlicher Verhaftungen, Folterungen und Morde. Ihre Angehörige erfahren meist nie von ihrem Tod und leben weiter in der Ungewißheit.

Einer von ihnen erzählt.


 

Die Geschichte
 

Bis hierhin bin ich gekommen, wo mich die Illusion hin getrieben hat, das weiß ich jetzt, wenn ich versuche in mich zu blicken, auf der Suche danach wo eines Tages alles angefangen hat. Dankbar bin ich dieser Übung, in der man in die Zeit zurückkehrt, in der es scheint als sei man fähig, das Gestern in einer beinahe gegenwärtigen Weise zu beherrschen...
 

Jetzt, in Deutschland, fühle ich die Notwendigkeit in diese Zeit zu reisen, in der wir damals gewesen sind. In der wir Passagiere unterschiedlicher Züge waren; der Züge, die auf den Linien und Parallelen fuhren, die die Wege bildeten in der Landschaft der Erinnerung. Ich glaube deshalb, daß der Zug einer dieser Orte ist, die es ermöglichen, die unbewußten Mechanismen zu überspringen und die Zeit zu verstehen, um sie in sich einzusaugen.
 

Die Landschaft gleicht dem Fließen eines Flusses, dessen Meer meine Augen sind. Die Landschaft kommt bis zu mir, und mir kommen auch diese verlorenen Zeiten wieder aus irgendeinem Teil meiner Brust. Klar, ich komme von einem Ort wo die Abwesenheiten anwesend werden auf der Straße der Erinnerung. Die Stadt aus der ich komme ist eine Insel ohne Meer, ein Gedicht ohne Verse, ein Ort der sich mit den Tagen graviert hat, mit den Stunden. Dort befinden sich die Gesichter, in denen ich lernte das Fließen dieses mit Illusionen beladenen Flusses zu lesen. Diese Gesichter, die tiefste Fröhlichkeiten erzeugen, diese Gesichter die den tiefsten Schmerz ausschrien, diese Gesichter beladen mit Kämpfen, diese Gesichter die in mir das Bild einer Stadt graviert haben: Bogotá.
 

Der Fluß bringt mir das Bild des Senor Rodriguez mit seinen Worten, die Zeugnis ablegen, mit einer Leidenschaft die man von Beginn an spürt; seine tiefen und meditativen Augen überwinden die Mauer meiner Erinnerung:
 

„Wir versammelten uns fast jeden Tag um hier zu suchen, dort zu suchen, denn sie haben uns zum Beispiel gesagt daß sie die Verschwundenen in Organisationen festhalten, in Militärgefängnissen und daß sie verrückt geworden seien und daß sie sie in den Straßen weggeworfen hätten. Wir suchten in den Krankenhäusern, auf den Müllhalden, wir waren auf den Marktplätzen um dort in der Gegend zu suchen, mal sehen wo wir irgendeine Information über unsere Angehörigen bekämen, und noch immer haben wir nichts gefunden“.
 

Eine Suche in der Erinnerung, in einer Insel von Erinnerungen, eine Suche die Senor Guarín mit stockender Stimme und beinahe heiteren Ausrutschern beschreibt, gleich dem Licht eines regnerischen Tages, wenn plötzlich der Himmel aufreißt und Fetzen der Sonne sich auf der Landschaft abbilden, genauso erscheint in der Erzählung dieses Mannes die Erinnerung an einen Tag:
 

„In den Kellern von Sacromonte, erinnere ich mich, wo sie die Verhafteten hingebracht hatten, standen Hunderte von Namen, die sie registriert haben, dort waren wir mit Enrique Rodriguez auf der Suche nach dem eingeritzten Namen meiner Tochter, auf der Suche nach ihrem Namen...“.
 

Auf der Plaza Bolívar in Bogotá verwebten sich für mich mit den Jahren viele Erinnerungen, zusammen mit den Angehörigen der Verschwundenen, auch denen des Justizpalastes. Es sammeln sich dort Menschenmengen vor dem nun neu aufgebauten Justizpalast, wo vor 15 Jahren ein Zusammenstoß zwischen der Guerilla M-19 und dem Militär stattfand. Er endete damit, daß der alte Palast vom Militär in Schutt und Asche gelegt wurde und neben Dutzenden von Toten und Verwundeten die 12 Bediensteten und Gäste der Caféteria des Palastes verschwanden, verschleppt wurden.

Eine Gruppe von Frauen, die damals schrien, um sich Gehör zu verschaffen, die Transparente malten und kleine Schildchen mit den Bildern ihrer Angehörigen trugen um gesehen und gefühlt zu werden, die angesichts der Taubheit und Blindheit des Landes die lebendige Rückkehr der Verschwundenen forderten. Für die Angehörigen hätte es immer Um- oder Auswege geben können. Diese Wege, die sich Hunderte von Malen in ihrer Vorstellung abspielten und die ihre erstickten Stimmen begleiten, wenn sie uns ihre Geschichten erzählen. So laufen ihre Erinnerungen durch die Stadt, als Fragezeichen, die in der Menschenmenge aufblinken.

Wenn sie sich erinnern, wenn sie mit ihrem Herzen noch einmal das durchleben, was ihnen widerfahren ist, füllen sich ihre Augen mit Tränen und auf ihren Gesichtern erscheint ein unsicheres Lächeln. Dieses Lächeln wird hervorgerufen durch die Unsicherheit, die man jeden Augenblick spürt, denn das Schicksal der Verschwundenen bleibt ungewißwie. Dona Ana beschreibt es so:
 

„Mir scheint, daß ich ihn mit Locken sehe, mit Glatze, dick, braungebrannt, warum sehe ich ihn kahlköpfig und braungebrannt? Ich sah ihn in meinen Träumen, wie er nach Hause kommt und sagt: ‚Mamí, meine Mamí, sorge dich nicht um mich, mir geht es gut, es ist nur so daß ich gerade nicht zu Hause sein kann, ich komme um dich zu begrüßen und dich zu sehen und dann gehe ich‘. Aber das sind Träume“.
 

Wenn man ihnen zuhört, scheinen ihre Stimmen mit einem Mal 20 Jahre an Erfahrungen als Angehörige von Verschwundenen in den Raum zu werfen, diese ganze Zeit des „Nicht Vergessens“, in der es ihnen schwerfällt, die Bilder an der Wand anzuschauen, auf denen sie die geliebte Person wiedererkennen. Und sie erzählen, wie sie sich gewahr wurden, daß sie nicht allein stehen:
 

„Ich lernte andere Personen während der Suche kennen, sei es auf der Suche bei dem DAS oder dem F2 [kolumbianische Geheimdienste], wir lernten uns kennen, und das war eine Erleichterung denn ich sagte: ah!, also bin ich es nicht allein die unter diesen Problemen leidet, sondern es gibt noch mehr!“.
 

Diese Blicke und diese Stimmen scheinen die ganze Last all jener mehr als 3.000 Namen zu tragen, die zur Zeit auf Plakaten und Flugblättern an den Wänden dieses Landes hängen. Auf diesen Gesichtern wird das Wissen zur Gewißheit, daß jeden Tag an irgendeinem Ort des Landes ein neues Bild, ein neues Plakat hinzukommt.
 

Vor meinem Fenster gehen die Worte vorbei, die mir diese verlorene Zeit aus irgendeinem Ort in meiner Brust wiederbringen. Im Fluß vereinen sich die Laute anderer Stimmen, die von Gefühlen sprechen die der Fluß mit sich trägt, die er mit sich trug, die die Hoffnung bedeuten, in dieser Strömung vereinen sie sich. Und ich denke an die Senora Josefa, an das was ich aus einem anderen Zug kenne, gleichzeitig sehne ich mich nach einem erneuten Bad in dem gleichen Fluß und mir kommen seine Worte, die etwas noch viel tiefer in meinem Herzen ausgraben, was auch ich sehr gut kenne: Das Exil:
 

„So war ich diejenige, die diesem Fall mit ASFADDES [Angehörigenorganisation in Kolumbien] gegenüberstand, aber es war auch ich diejenige die gestört hat, und so mußte ich das Land verlassen“.
 

Während eine Stimme im Lautsprecher des Zuges durch Deutschland sagt, „Nächste Haltestelle...“, ist all mein Ich in diesem Bogotá der Gerüche, wo eines Tages die Landschaft der Erinnerung gesponnen, vernetzt und vereint wird. Wo die Frage nach der Geschichte bleibt, einer Geschichte, die verschwunden ist.


 

Ein Dokumentarfilm
 

Die Idee und Struktur des Films entspringt der persönlichen Geschichte des kolumbianischen Erzählers (ein Erzähler, der nur mittels Ton auftritt). Er erzählt, welches seine Beweggründe waren die ihn zum Reisen im Zug durch Deutschland geführt haben. Diese Reise beginnt wie eine Suche nach anderen Landschaften, nach einer anderen Zeit und anhand der Erinnerung versucht er, sich einiger verschwundener Namen und Gesichter zu erinnern. Diese Gesichter und Namen die er erinnert erscheinen langsam während des Weges und beschreiben das Land Kolumbien anhand von Zeugenberichten, die die politische Analyse und persönliche Erfahrungen miteinander vermischen. Die Erinnerung ist eine der Achsen, über die die Geschichte entflochten wird. Deshalb ergänzen sich die Berichte und die persönlichen Zeugnisse, indem sie von der einen Stimme der Erinnerung des Erzählers zusammengehalten werden.
 

Die Geschichte, die hier erzählt wird, beginnt bei der beklemmenden Angst der Angehörigen der Verschwundenen und ihrer Suche und beschreibt, was diese Suche mit sich bringt. Eine Geschichte die zeigt, wie sich die Angehörigen zusammengefunden haben, wie sie begannen sich zu organisieren, wie sie sich in einem Labyrinth von politischen und juristischen Ungerechtigkeiten wiederfanden und wie sie sich diesen gestellt haben; wie also ihre Kämpfe ausgesehen haben.
 

Der Erzähler berichtet von einer Reise, die rund um seine eigene persönliche Erfahrung kreist. Seine Stimme erscheint, um Themen im Film voneinander zu trennen und jeden neuen Augenzeugenbericht zu kontextualisieren.

Auch visuell wird die Kombination der Zeiten, der Vergangenheit und der Gegenwart, über den Erzähler hergestellt: Über seine Vergangenheit in einem chaotischen Bogotá, die in nichts der Ruhe gleicht, die seine Reise im Zug in Deutschland charakterisiert. Es ist ein Gegensatz von Bildern, die scheinbar die Entfernungen und Unterschiede der Orte in Kolumbien und Deutschland bezeichnen. Dabei wird gleichzeitig eine Nähe hergestellt, die durch die Erinnerung erzeugt wird; durch das, was das Vergessen, die Amnesie und die Straflosigkeit bedeuten, wenn es sich um das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen handelt.
 

Der rote Faden der Geschichte ist die Erinnerung; die Notwendigkeit, die Ereignisse der Geschichte zu verstehen, um die Gegenwart zu begreifen. Dabei versucht der Film zusätzlich die Schwächen der individuellen Erinnerung aufzuzeigen, ihre Vergänglichkeit, ihre Verletzbarkeit.

Der Film plädiert für eine kollektive Erinnerung.


 

Technische Daten
 

Realisierung

Genre: Dokumentarfilm

Aufnahme: Digital Video

Endfassung: Beta SP

Drehort: Bogotá, Kolumbien

Länge des Films: ca. 50 Minuten
 

Stabliste

Produktion: Gruppe ISKA

Buch: Erick Arellana, Pedro Campoy

Regie: Erick Arellana, Pedro Campoy

Recherche: Gruppe ISKA

Kamera: Erick Arellana

Ton: Matthias Döring

Postproduktion: Gruppe ISKA in Zusammenarbeit mit der Videowerkstatt autofocus, Berlin und der Gesamthochschule Kassel